Weine nicht, mein Freund!

Das Ruhrgebiet ist ja immer auch ein Schmelztiegel unterschiedlichster Nationalitäten gewesen. Dem Klischee nach stammen wir ja alle von polnischen Püttadligen ab. Dass das dem Namen nach in meiner Familie nicht der Fall zu sein scheint (klingt mehr nach Benelux), muss mein Vater als Manko empfunden haben, weshalb er sich meiner Mutter in der Tanzschule Bobby Linden 1964 als »Goosenowski« vorstellte (siehe auch »Liebe ohne Raum oder Das Haldenkind« in »Mein Ich und sein Leben«).

Das war die Zeit, in der die ersten Italiener im Ruhrgebiet auftauchten. Später kamen die Türken, die Griechen und all die anderen, die nicht nur unseren Speiseplan bereicherten. Ab 89/90 wieder verstärkt Menschen aus dem östlichen Teil Mitteleuropas, also Polen, Ukrainer, Russen - und unsere Mitbürger von jenseits der Elbe.

Kurz nach der Wende hatte ich von Letzteren einen besonderen Menschen kennengelernt, der mir mit der angeblich so typischen Berliner Schnauze den Osten erklärte. Zum Beispiel meinte der Kollege: »Weeste, hättenwa Videorekorder jehabt, hättenwa keene Revolution jemacht. Fraacht sich, watt wir uns erspart hätten, wenn die Industriespionage der DDR etwas effektiver jewesen wäre.« Auch jenes schändliche Bauwerk, welches Berlin seinerzeit teilte, ordnete mein Ostberliner Vertrauter ganz anders ein als viele seiner Landsleute: »Und dit mit der Mauer, also weeste, ick habe nich stän-dich Angst vor jehabt. ]ut, da sind Leute erschossen worden. Aber weeste: Et stand ooch dranl«

Mit diesem Menschen stand ich Anfang der Neunziger an der Selterbude in der Nähe meiner damaligen Wohnung, und diese Bude wurde betrieben von einem hochgewachsenen Türken mit eindrucksvollem Schnauzbart. Und der Berliner Kollege textete den schweigsamen Türken gnadenlos zu: »Sach ma, du bist ja ooch nich von hier, aber schon länger vor Ort. Wie findsten dit, dit wir jetzt alle hier ufftau-chen, also die Polen, Ukrainer, Russen und wir Ossis. Wie findsten dit?«

Der Türke beugte sich vor und sprach: »Wir euch nicht gerrufen!« Gelebte Integration!

Ein anderes schönes Beispiel für perfekte Völkerverständigung mit charmanter Note durfte ich 2002 erleben. Einen Tag nach dem Endspiel der Fußball-WM im japanischen Yokohama, welches Oliver Kahn 0:2 verloren hatte, kam ich an meine damalige Bude, die ebenfalls von einem jungen Türken betrieben wurde, der in seinem Zeitschriftenangebot selbstredend auch türkische Publikationen feilbot. Die Hürriyet titelte an diesem Montag schon auf Deutsch: »Sei nicht traurig, Deutschland«, was schon eine nette Geste war, zumal man sich im Falle einer Finalniederlage der Türken, die ja ebenfalls im Halbfinale gestanden hatten, eine entsprechende, türkischsprachige Schlagzeile auf der BILD-Zeitung nur schwer hätte vorstellen können. Neben der Hürriyet hing aber auch eine türkische Fußballzeitschrift, die schon in ihrem Namen auf den Punkt bringt, wie man mit diesem wunderbaren Sport umgehen muss, die heißt nämlich »Fanatik«. Und das Titelbild der Fanatik zierte folgende Schlagzeile: »Weine nicht, meine Freund!« Großartig! Nicht trotz, sondern gerade wegen dieser kleinen grammatikalischen Unwucht!

Und dann durfte ich mal feststellen, dass Einheimische bei uns gern bei der Integration ausländischer Mitbürger helfen - zur Not gegen den Willen des zu Integrierenden.

Da saß ich einmal in der S-Bahn zwischen Bochum und Essen. Auf der anderen Seite des Ganges ein junger Südländer, der in einer Zeitung seiner Muttersprache las. Ihm gegenüber ein älterer Deutscher ohne Angst vor Klischees, also mit weißen Socken in offenen Sandalen und einer karierten Schiebermütze auf dem Kopf. Der versuchte zunächst nonverbal mit dem jungen Südländer Kontakt aufzunehmen und sprach ihn, als das nichts fruchtete, dann doch an. Aus der Antwort ging klar hervor, dass der Angesprochene kein Deutsch sprach. Nun hält sich gerade bei älteren Menschen hartnäckig ein alter Irrglaube: Wenn einer kein Deutsch kann, dann muss man nur lauter sprechen! Dann gibt das gegnerische Gehirn irgendwann auf und fängt an zu verstehen. Also brüllte der ältere Herr durch den ganzen Waggon: »Wissen Sie, Deutsch ist eine sehr schwere Sprache!« Der ganze Wagen war voller Leute, die das sofort unterschrieben hätten. Und die meisten waren hier geboren. »Schwer, aber schön!«, fuhr der selbsternannte Ausländerbeauftragte fort. Der junge Mann gegenüber versteckte sich krampfhaft hinter seiner Zeitung. »Und jetzt gebe ich Ihnen mal einen Rat!« Den der andere sehr deutlich nicht haben wollte. »Wenn Sie richtig Deutsch lernen wollen, dann müssen Sie einem Verein beitreten! Am besten einem Kegelverein! Da kriegen Sie auch gleich neue Schuhe! Und da nennt man Sie Bruder! Da sind Sie nämlich ein Kegelbruder!«

In diesem Moment kamen wir in Essen-Eiberg an. (Für alle Auswärtigen: Der Stadtteil heißt wirklich so!) Der junge Südländer sprang auf und verließ fluchtartig die Bahn. Nun, zumindest glaubte ich erst, er sei auf der Flucht vor dem weisen alten Mann. Dann aber dachte ich: Nein, wahrscheinlich sucht er draußen nur sofort nach der ersten Kneipe mit Bundeskegelbahn, stolpert in den Keller, klopft an eine Tür, zwölf Kerle mit Pinnchen voller Appelkorn in der Hand öffnen ihm und rufen gleich voller Freude: »BRUDER!« Ein schönes Bild.

Fast war ich versucht, dem Flüchtenden hinterherzurufen: »Wir sind nicht alle so!« Beziehungsweise: »Weine nicht, meine Freund!«

 

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